

Schlagermove: Unser Selbstversuch im Partychaos von St. Pauli

Der Schlagermove zieht Jahr für Jahr Freunde der deutschen Musik nach Hamburg – so zuverlässig wie Bier die Wespen. Wir ahnungslosen Touristen aus der Schweizer Redaktion waren mittendrin und voll dabei.
Seit fast dreissig Jahren ziehen motivierte Trinkerinnen und tanzfreudige Partymäuse im Juli mit nur einem Ziel durch die Strassen von St. Pauli: die vollkommene Schlagerekstase. Sie folgen rund 50 Trucks, die mit Musikanlagen, DJs sowie Live-Sängerinnen und -Sängern ausgestattet sind. Ähnlich wie die Streetparade, die sich jährlich bei uns in Zürich vor der Haustür abspielt. Aber auf das, was uns an der Schlagermove erwartet, waren wir trotzdem nicht gefasst.
Dass wir genau während des Kult-Events unser Büro in Hamburg besuchen, war reiner Zufall. Oder eher Glücksfall? Für die einen zumindest. Nach der Firmenfeier am Freitag war es am Samstag soweit: Zwischen all den bunten Gestalten, die Richtung St. Pauli strömten, waren wir. Wild verteilt, aber durch die Parade vereint, streiften wir durch den Schlagermove. Was dabei raus kam, erzählt dir jede Person aus unserer Gruppe selbst.
Stefanie: Beim Outfit komplett daneben gegriffen
Dank jährlicher Veranstaltungen wie dem Turnfest ist mir Schlager kein Fremdwort. Also lag es an mir, unser Team für die Parade auszurüsten. Und weil ich auch diejenige war, die sie im Zug mitschleppen musste, entschied ich mich für das Einfachste, das überhaupt noch als Kostüm durchgeht: Harry-Potter-Brillen und farbige Partyhüte. Für den Durst gabs einen einsatzbereiten Trinkbecher für um den Hals und einen Quetschbeutel zum Nachfüllen.

Erst als wir an der Parade zum fünften Mal mit einem «Kompliment» für unsere «tollen Hüte» gewürdigt und laut ausgelacht wurden, wurde mir klar, wie sehr wir mit unseren Kostümen auffielen. Am Schlagermove hat man sich uns schöntrinken müssen. Keiner von uns trug Schlaghosen-Stülpen über den Jeans, Blumen-Poncho-Kostüme oder das Schlagermove-Must-Have: die Hawaiiketten.
Mein Selbstvertrauen, in der Masse unterzugehen und unbemerkt zu bleiben, wandelte sich schnell in ein leichtes Schamgefühl – bis der Partyhut wieder von alleine in meiner Tasche verschwand. Immerhin stachen die bunten Kopfbedeckungen meiner Mitarbeiter zwischen den Dauerwellen-Perücken wortwörtlich so gut heraus, dass ich nie jemanden aus den Augen verlor.



Patrick: Resilienz-Härtetest mit Menschenmassen und Ballermann-Schlagern
Mein Schlagermove begann schon am Tag zuvor, auf der Reise nach Hamburg. Den Irrungen und Wirrungen der Deutschen Bahn ausgeliefert, wie Odysseus den Launen Poseidons, landete ich irgendwann in dem Zug, mit dem gefühlt halb Deutschland zum Epizentrum des Schlagers pilgerte. Für meine persönliche Bordunterhaltung war eine Gruppe «Desperate Housewives» aus der Provinz vor mir zuständig.
Mit (vermeintlich) anzüglichen Outfits und kessen T-Shirt-Sprüchen wie «Holla, die Weinfee!» oder «Besäufniserregend» (zugegeben, eines meiner neuen Lieblingswörter) machten sie sich breit. Dazu gab’s Smirnoff Ice und andere Alcopops à gogo. Lauthals sangen sie übelsten Ballermann-Schund wie «Layla» und «Ich verkaufe meinen Körper» – und forderten mich wiederholt zum Mitmachen auf. Ich entgleiste innerlich und machte gute Miene zum bösen Spiel, aber nicht mit; so weit kommt’s noch! Mit zwei Stunden Verspätung kamen wir schliesslich in Hamburg an. Ich war fertig mit der Welt und verbarrikadierte mich für den Rest des Tages im Hotelzimmer.
Der nächste Tag. Wir bummelten am Startort der 50 Musikmobile vorbei, die sich gleich auf den Weg durch St. Pauli machten. An jeder Ecke standen grössere und kleinere Menschentrauben, die es vor lauter Vorglühen kaum erwarten konnten, dass es endlich losgeht. Spätestens bei den Landungsbrücken am Hafen erfuhr ich am eigenen Leib, wie gross diese Veranstaltung tatsächlich ist (etwa 300 000 Feierbiester werden es am Ende gewesen sein): Zwischen zwei Schlager-Trucks mussten wir mitten durchs munteres Treiben und Gewimmel, um auf die andere Seite zu kommen – HORROR! Dazu die ständige Beschallung mit diesem dummdreist-fröhlichen Soundtrack, einer Kakophonie des Grauens in meinen Ohren, bestehend aus mehreren gleichzeitig laufenden Schlagerliedern. Oder das, was sich heutzutage Schlager nennt.
Nein, ich konnte das alles nicht mehr, nicht noch einmal. Schlagermove, du bist definitiv nicht meine Welt.
Lorenz: Wie in einem Altersheim auf Malle
Ich hatte auf eine gewisse Ironie oder zumindest einen spielerischen Umgang mit dem Thema Schlager erhofft. Eine naive Leichtigkeit, die ja durchaus in der Musik zum Ausdruck kommt. Gesehen habe ich viele Menschen in den 50ern und 60ern, garantiert ohne Migrationshintergrund, die getrunken und gegrölt haben. Die grossen Trucks unterschieden sich hauptsächlich wegen der Logos der unterschiedlichen Sponsoren. Kaum Dekoration, keine Ideen, nichts Charmantes.
Simon: Streetparade in komplett wahnsinnig
Ich war das letzte Mal vor über zehn Jahren an der Streetparade in Zürich. Die Kakophonie der Lovemobiles hat mich immer wahnsinnig gestört, die Musik hat mich selten abgeholt. Früher bin ich jeweils rituell dem Drum-and-Bass-Wagen gefolgt, heute bleibe ich fern. Die akustische Zumutung zwischen Helene Fischer, Neuer Deutscher Welle und die Flippers war dann auch das, was mich beim Schlagermove in den Wahnsinn getrieben hat. Andreas Gabalier ist alleine schon zum Kotzen. Unterlegt mit einem Blümchen-Technobeat und einer Flippers-Handorgel ist es pure Folter.

Michael: Helvetisierung erfolgreich abgeschlossen
Als Deutsch-Schweizer-Doppelbürger schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Das eine klopft im Takt, wenn eine Horde trinkfreudiger Germanen zwischen grauen Nachkriegsbauten «Ein bisschen Spass muss sein» in den wolkenverhangenen Hamburger Himmel schmettert. Das andere schmerzt, wenn nach neun Stunden ruckeliger Anreise mit der Deutschen Bahn «Der Zug hat keine Bremse» vom völlig überladenen Party-Truck gegrölt wird. Nach bald zwei Jahrzehnten in der Schweiz hat sich mein Blick auf die alte Heimat verändert.

Früher fand ich es völlig normal, wenn an Karneval ein Einhorn in die Büsche kotzte, während sich Biene Maja daneben knutschend in der Blumenkette eines Haiwaiihemdträgers verhedderte. Ich hörte fröhliche Klänge und sah ausgelassene Menschen. Inzwischen wirken ballermann-ähnliche Partyszenen wie am Schlagermove völlig anders auf mich. Ich sehe zu viele billigste Plastikhemden, die im schlimmsten Fall nicht nur Augenkrebs verursachen. Ich höre zu viel Lärm in über Stunden angesoffener Extase. Ich spüre: Ich kann das nicht mehr. Meine Helvetisierung ist erfolgreich abgeschlossen. Oder ich werde einfach alt.


Die Wände kurz vor der Wohnungsübergabe streichen? Kimchi selber machen? Einen kaputten Raclette-Ofen löten? Geht nicht – gibts nicht. Also manchmal schon. Aber ich probiere es auf jeden Fall aus.