
Hintergrund
«Hier bin ich einfach die Wendy»
von Patrick Bardelli
Ich habe mir ein ausgiebiges Waldbad gegönnt – in einem Shinrin Yoku Seminar unter professioneller Anleitung. Das hat mich auf ein paar gute Ideen gebracht und doch werde ich in Zukunft lieber wieder allein im Wald entspannen.
Waldbaden bedeutet nicht, umgeben von Bäumen in einen See zu springen. Wobei das sicher auch gut tun würde. Nein, Waldbaden, auch Shinrin Yoku genannt, musst du in anderem Sinne wörtlich nehmen: Du tauchst nicht in Wasser ein, sondern eben in den Wald. Das mag erst einmal komisch klingen, dahinter steckt aber ein wissenschaftlich untersuchtes Konzept, das sich extrem positiv auf deine Gesundheit auswirken kann.
Ich wollte wissen, was dahinter steckt und habe mich ganz offiziell für eine Waldbaden-Session angemeldet. Für drei Stunden sage ich dem Stadtleben mit all seinem Trubel und Lärm «Adieu» und tauche ein in die Ruhe eines nahegelegenen Waldes.
Für mich beginnt das Bad im Wald am Hamburger Stadtrand vor dem Haus der Wilden Weiden, einem Naturkundemuseum im Naturschutzgebiet Höltigbaum.
Es ist ein heißer, trockener Sommertag und ich freue mich auf die kommende Abkühlung im Schatten der Bäume. Mit mir haben sieben weitere Ruhesuchende den Weg in den Wald gefunden. Die «Badetour» wird geleitet von der Naturpädagogin Angela von der Geest, die sich selbst die Waldbademeisterin nennt. Zurecht, wie sich im Laufe des Nachmittags herausstellen wird. Wir versammeln uns vor dem Wald und bekommen zuerst eine kleine Einführung ins Thema.
Entwickelt wurde Shinrin Yoku, wie das Waldbaden auf Japanisch heißt, in den 1980er Jahren. Die japanische Regierung suchte damals nach einer Möglichkeit, der stetig wachsenden urbanisierten Gesellschaft eine Erholungsmöglichkeit als Gegengewicht zum Stress der Stadt zu bieten. Achtsame und bewusste Zeit in der Natur, bestenfalls im Wald, zu verbringen, erschien als guter Ausgleich für die gestressten Städter und so wurde das Waldbaden etabliert. Zeitgleich initiierte die japanische Regierung umfangreiche Forschungsprojekte, um die Auswirkungen des Shinrin Yokus zu untersuchen. Inzwischen liefert die internationale Wissenschaft eine Reihe an Nachweisen für die positive Wirkung auf Körper und Geist: von Stressabbau, über die Reduzierung von Angstzuständen und den Auswirkungen von Depressionen bis hin zur Stärkung des Immunsystems.
Unsere Waldbademeisterin strahlt eine unglaubliche Ruhe aus. Wenn sie die aus dem Wald hat, kann das Erlebnis nur entspannend werden.
Nach dem kurzen informativen Hintergrund zieht unsere kleine Gruppe los. Auf einer Wiese vor der ersten Baumreihe bleiben wir stehen und versammeln uns im Kreis. Zur Einstimmung auf das Kommende beginnt die Bademeisterin mit einigen Achtsamkeits- und Atemübungen. Wir sollen zur Ruhe kommen, entschleunigen, den Übergang in diese andere, entspannende Welt finden. Langsamkeit ist die Devise und «das einzige Tempo, das in den kommenden Stunden im Wald erlaubt ist», wird uns eingebläut. Eine Viertelstunde und einige Qi-Gong-Übungen später fühle ich mich tatsächlich schon etwas entschleunigt, will aber nun endlich in den Wald eintauchen. Dorthin machen wir uns jetzt langsamen, stillen Schrittes auf den Weg.
Kaum haben wir die ersten Bäume hinter uns gelassen, bekomme ich das Gefühl, regelrecht von der ruhigen, kühlen Atmosphäre des Waldes verschluckt zu werden. Es ist wirklich wie ein Eintauchen – das Bad beginnt.
Wir laufen ein Stück in den Wald hinein, bis wir rundum von Bäumen umgeben sind. Ein Stück abseits des Weges breitet die Bademeisterin eine Decke auf dem Boden aus, die nun unsere Basis sein wird, zu der wir nach verschiedenen Entdeckungstouren im Wald immer wieder zurückkehren werden.
Als Botanikerin, die sich lange mit Bäumen und deren Altersbestimmung befasst hat, bin ich zu diesem Zeitpunkt allerdings geistig gerade abgelenkt: Das Waldstück ist wild und undurchforstet, das gefällt mir sehr. Die meisten Bäume sind aber verhältnismäßig jung und wie ich gleich erfahren soll, ist es auch nur ein Waldstückchen. Schade, denke ich, ich hätte mir einen alten, großen, dichten Wald gewünscht.
Nun geht es endlich richtig los. Wir bekommen unseren ersten Auftrag und dürfen in alle Richtungen losziehen, bis die «Eule» uns zurückruft. Die «Eule» ist eine kleine, geschnitzte Holzpfeife in Form eines Kauzes. Erster Auftrag: Den Wald entdecken, nur schauen, was wir sehen und es auf uns wirken lassen, aber dabei nichts anfassen. Wir verteilen uns in verschiedene Richtungen.
Ich merke, wie ich intuitiv versuche, Abstand zu den anderen Teilnehmern zu gewinnen. Ich will den Wald in Ruhe für mich erleben, die Anwesenheit der anderen stört mich ein wenig. Ich komme ins Grübeln, ob es nicht zielführender gewesen wäre, einfach alleine in einen wirklich einsamen, alten Wald zu fahren, als hier in der Gruppe nach Anweisung zu entschleunigen. Jetzt ist es ohnehin zu spät für eine Planänderung, also beschließe ich, mich bestmöglich auf das Erlebnis einzulassen.
Nach einiger Zeit, während der alle für sich im Wald umherstreifen, hören wir die Eule rufen und versammeln uns wieder um die Decke am Boden. Ich komme als Letzte wieder an der Basis an. Ob ich das mit der Entschleunigung ernster genommen habe als die anderen?
Der nächste Auftrag folgt: Nun dürfen und sollen wir den Wald anfassen, riechen und – wenn es uns geeignet erscheint – auch schmecken. Zielstrebig zieht es mich weg von den anderen. Ich streiche über ein paar Blätter und lehne mich schließlich an einen hohen Baum. Aufs Schmecken verzichte ich. Dafür gehen die Zweifel wieder los: Ist mir das vielleicht hier doch zu abgehoben? Wäre ich jetzt alleine, würde ich mir ein schönes Plätzchen suchen und den Wald auf mich wirken lassen – ganz ohne Auftrag, andere Menschen und innere Unruhe, die Eulenpfeiffe zu überhören. So ganz lassen sich diese Gedanken nicht wegschieben, bis es wieder heißt: Zurück zur Basis.
Nach einem kleinen Austausch, wer was gespürt, gerochen und geschmeckt hat, bekommen wir die nächste Aufgabe: Schuhe ausziehen! Einige in der Gruppe blicken leicht verwirrt drein und obwohl ich gerne und viel barfuß laufe, bin auch ich etwas überrascht von dem Vorschlag. Aber klar, warum eigentlich nicht?
Und so kommt mein Aha-Moment dieses Tages: Der Waldboden ist unglaublich weich. Meine Füße sacken ganz leicht in die angenehm kühle, lockere Walderde ein. Ich bin fasziniert von dem unerwarteten Erlebnis und habe damit die Antwort auf die Frage, ob die geleitete Waldbadetour die richtige Wahl war: Ja, war es! Denn zugegeben, alleine wäre ich nicht auf die Idee gekommen, im Wald meine Schuhe auszuziehen. Und ich weiß schon jetzt, dass das für mich, wenn irgendwie möglich, ein Bestandteil jedes zukünftigen Waldbesuchs sein wird.
Nach einigen Minuten, in denen alle für sich das ungewohnte Gefühl auf sich haben wirken lassen, versammeln wir uns wieder um die Decke. Der nächste Auftrag folgt: Hören. Sehr detailliert beschreibt die Waldbademeisterin, wie wir die nächste Viertelstunde nutzen sollen. Gezielt nacheinander in verschiedene Richtungen hören. Was fällt uns auf? Welche Vögel können wir am Gesang identifizieren? Gelingt es uns, das leise Rauschen der nahen Autobahn auszublenden oder besser umzudeuten in das Rauschen eines Flusses beispielsweise? Dazu der Hinweis, die Schuhe wieder anziehen zu dürfen oder eben nicht, wenn wir nicht wollen. Meine Entscheidung ist klar: Die Schuhe bleiben natürlich aus.
Jetzt endlich kann ich das machen, was ich eigentlich von Anfang an vorhatte: Ich suche mir ein gemütliches Plätzchen (weit weg von den anderen, versteht sich), setze mich auf den Boden, lehne mich an eine alte, knorrige Eiche und schließe die Augen. Einen Moment lang versuche ich gezielt nur in eine Richtung zu hören, was mir eher schlecht als recht gelingt. Und so genieße ich einfach «Richtungs-unabhängig» die Ruhe, das Zwitschern der Vögel und Rauschen des Windes im dichten Blätterdach. Jetzt bin ich ganz im Wald angekommen …
… bis die Eule wieder ruft. Zugegeben: In diesem Moment nervt mich das olle Vieh, das meine Ruhe stört. Ich wäre gerne weiter an meiner Eiche geblieben, aber trotte jetzt schicksalsergeben zu den anderen. Die nächste Aufgabe ist nicht ganz mein Fall. Jeder bekommt einen Spiegel, der im 90-Grad-Winkel knapp über oder unter die Augen gehalten werden soll für neue Perspektiven. Wir können ihn auch nutzen, um uns etwa Blätter von unten anzusehen oder in einen hohlen Baumstamm zu spähen. Nach ein paar Minuten gehen mir die Ideen aus und so warte ich diesmal eher ungeduldig auf den Eulenruf. Das Feedback der anderen Waldbadenden fällt positiv aus, die Spiegel-Abneigung scheint mein persönliches Ding zu sein. Nicht weiter schlimm, denn nun kommt das zweite Highlight der Veranstaltung.
Während wir mit den Spiegeln unterwegs waren, hat die Waldbademeisterin überall im Wald Hängematten zwischen die Bäume gespannt. Die letzte halbe Stunde ist ganz nach meinem Geschmack und auch wieder etwas, was ich von alleine nicht einfach mal so gemacht hätte. Jeder sucht sich eine Hängematte. Zu meiner Erleichterung gibt es auch keine weiteren Aufgaben, wir dürfen uns einfach hängen lassen, entspannen und wegdösen. Wunderbar, so hatte ich mir das gewünscht. Ich schwinge mich in meine Matte und bin einfach glücklich.
Als wir einige Zeit später den Wald verlassen, ist es wirklich ein wenig wie das Auftauchen aus einer anderen Welt. Ich merke nicht nur bei mir, sondern auch bei den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, dass der Wald auf uns gewirkt hat. Wir sind entschleunigt, ruhiger, zufriedener und irgendwie erfüllt. Das Feedback der Gruppe fällt insgesamt sehr positiv aus. Ich bin aber nicht die einzige, die sich von dem getakteten Ablauf ein wenig unter Druck fühlte. Ein anderer Teilnehmer merkt an, dass er nie ganz locker gelassen habe, weil er Sorge hatte, den Rückruf zur Decke zu verpassen. Ein anderer ist, wie ich, bis zum Verlassen des Waldes noch barfuß und hoch erfreut, dieses Erlebnis gemacht zu haben.
Insgesamt hat sich das Waldbaden in dieser Form mit professioneller Anleitung für mich auf jeden Fall gelohnt. Nach drei Stunden bin ich entschleunigt, entspannt, innerlich ruhig und zufrieden. Wissenschaftliche Erkenntnisse zu Shinrin Yoku hin oder her, dieses Gefühl reicht mir als Nachweis für die positive Wirkung des Waldbadens. Und auch wenn ich zwischenzeitlich mit den Entdeckungsaufträgen gehadert habe, war genau das ein entscheidender Punkt: Ich habe neue Ideen bekommen, die meine zukünftigen Waldbesuche bereichern werden. Und der Wald ist wieder näher in mein Bewusstsein gerückt.
Ein kleines Waldbad zwischendrin werde ich sicher häufiger nehmen – ganz ohne Anleitung aber mit einer Hängematte im Gepäck.
Titelfoto: Anna SandnerWissenschaftsredakteurin und Biologin. Ich liebe Tiere und bin fasziniert von Pflanzen, ihren Fähigkeiten und allem, was man daraus und damit machen kann. Deswegen ist mein liebster Ort immer draußen – irgendwo in der Natur, gerne in meinem wilden Garten.